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Windernte: Gewinnung von Windenergie in großen Höhen

Von Shishir Shekhar, MathWorks


Wenn Sie auf der Autobahn fahren, sehen Sie häufig in der Ferne Windturbinen, die aus der Landschaft sprießen wie riesige metallene Pusteblumen. Doch wie oft sehen Sie dabei Windparks mit Turbinen, die sich nicht drehen?

Diese Stillstandszeiten, in denen kein Strom erzeugt wird,  gibt es bei jedem Windpark. (Laut der U.S. Energy Information Administration wurden die Windparks in den USA im Jahr 2016 nur mit 34,7 Prozent ihrer Kapazität betrieben. Diese Zahl umfasst sowohl Ausfallzeiten für Wartungsarbeiten als auch Tage mit zu schwachem Wind.) Dass es nicht ständig windig ist, ist wahrscheinlich sogar der größte Nachteil dieser ansonsten kostenlosen, sauberen und reichlich vorhandenen Energiequelle.

Aber das muss nicht so sein, sagen einige Technologen, Ingenieure und Start-ups. Die Erdwärme ist eine ständig verfügbare Energiequelle. Im Jahr 2016 wurden die Erdwärme-Anlagen in den USA mit 74,2 Prozent ihrer Kapazität betrieben. Was wäre, wenn der Wind in ähnlichem Umfang genutzt werden könnte?

Die Fürsprecher der nächsten Generation von Windkraftanlagen weisen darauf hin, dass vielerorts nur einen Kilometer über dem Erdboden fast ständig Wind weht. Beispielsweise besagt eine aktuelle Studie, dass der gesamte weltweite Energieverbrauch Peanuts im Vergleich zur Windenergie in großen Höhen ist. Die Welt verbraucht zu jedem Zeitpunkt rund 18 Terawatt Strom (Quelle: IEA) und laut dieser Studie würde die Gewinnung von 18 Terawatt Strom aus Höhenwinden keinen spürbaren Einfluß auf  den Wind oder das Klima der Erde machen.

Für konventionelle Windparks sind nur einige windige Regionen der Erde die besten Standorte. Potenzielle Standorte für Flugwindkraftwerke (Airborne Wind Energy, AWE) hingegen finden sich überall auf der Welt. Höhenwinde wehen fast überall auf der Erde gleichmäßiger, stärker und zuverlässiger.

AWE-Turbinen könnten den Fortschritt bringen, den die Windenergie braucht. Sie könnten Teil eines Mainstreams zukünftiger CO2-freier Energiequellen werden, die ganze Stromnetze robust, zuverlässig und ständig (oder fast ständig) versorgen.

Wie ließe sich das bewerkstelligen? Wie die meisten AWE-Unternehmen und -Forscher herausgefunden haben, sind die vielversprechendsten AWE-Systeme nicht Turbinen – es sind vielmehr Drachen, modifizierte Fallschirme, Drohnen, Zeppeline, Fesselballon-ähnlich angeleinte Luftfahrzeuge oder eine ausgeklügelte Kombination dieser Flugsysteme.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Ampyx Power.

Auf Turbinen zu verzichten, macht das Problem jedoch erheblich komplizierter. Auf einmal ist die technische Aufgabe nicht mehr die vergleichsweise einfache Herstellung eines Windrads, das an einem Mast im Boden befestigt ist, sondern die Schaffung eines fliegenden Systems aus maßgeschneiderten Technologien, die zwei Probleme lösen müssen: an einem Seil mit klar begrenzter Länge in der Luft zu stehen oder zu kreisen – ununterbrochen vom Wind gepeitscht – und mehr Strom zu erzeugen, als die Fortbewegung, die Lenkung und der Betrieb des Geräts selbst verbrauchen.

AWE ist also ein sehr anspruchsvolles technisches Problem. Aber offensichtlich auch ein sehr attraktives.

„AWE hat das Potenzial zum ganz großen Erfolg“, kommentiert Antonello Cherubini, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa. Cherubini hat den vielleicht umfassendsten Überblick über die gesamte AWE-Branche erhoben und die Ergebnisse seiner Gruppe im Jahr 2015 in einer Ausgabe der Fachzeitschrift Renewable and Sustainable Energy Systems veröffentlicht. 

„Höhenwinde sind extrem vorteilhaft. Sie sind um Größenordnungen stärker als die in Bodennähe. Stellen Sie sich vor, was die Menschheit mit einer Windturbine erreichen könnte, die 50-mal stärkeren Wind nutzen kann als heute.“

AWE-Anlagen im Megawattbereich sind leicht vorstellbar, erklärt Cherubini, da physikalisch gesehen nichts dagegen spricht, Windparks aus größeren „Flugwindkraft-Turbinen“ zu konstruieren.

Für das Start-up KITEnergy aus Turin ist die AWE-„Turbine“ das vom Wind getragene Flugobjekt in seinem Unternehmensnamen. AWE-Systeme mit Drachen, so der KITEnergy-Projektleiter Gian Mauro Maneia, hat das Potenzial zur Energiegewinnung im Megawatt-Bereich.

Der 60-Kilowatt-Prototyp (im Bild) des Unternehmens erzeugt Strom, indem ein Drachen in der Größe eines Parasails zyklisch im Höhenbereich zwischen 300 Metern und einem Kilometer fliegt. Eine Winde, die mit dem Generator in der Bodenstation verbunden ist, spult ein Seil ab, wenn der Drachen daran zieht. Die hierdurch verursachte Rotation der Winde erzeugt Strom. Die „Autopilot“-Software des Drachen manövriert diesen dann wieder in seine Ausgangsposition zurück; dabei spult sich das Seil auf. Dann zieht der Drachen wieder am Seil, und der Zyklus beginnt von vorn.

Der Fallschirm-Drachen von KITEnergy fungiert als Turbine zur Erzeugung erneuerbarer Energien.

Bild mit freundlicher Genehmigung von KITEnergy.

Das Unternehmen arbeitet zurzeit an einem 250-Kilowatt-Modell, erklärt Maneia; dieses könnte ein Viertel eines 1-Megawatt-AWE-Windparks auf Drachenbasis darstellen.

Weiter erläutert Maneia, dass eine herkömmliche Windturbine, die an einem windigen Ort steht, 2000 bis 2500 Stunden von den 8760 Stunden eines Jahres arbeiten kann. Der Prototyp von KITEnergy kann an viel mehr Orten betrieben werden als Windturbinen am Boden, die windige Standorte benötigen. Dennoch zeigt sich laut Maneia, dass diese Prototypen mindestens 3000 bis 3500 Stunden pro Jahr Strom mit der Nennleistung des KITEnergy-Systems erzeugen können.

Die Skalierung auf den 250-Kilowatt-Prototypen birgt zwei große Herausforderungen, die eine umfangreiche Computersimulation erfordern: Das automatische Flugsteuerungssystem des Drachens und das elektrische System für die Energieerzeugung, wobei KITEnergy hier zwei Stromspeichertechnologien verwendet. Die eine speichert Energie im elektrischen Feld paralleler Leiterplatten (ein sogenannter Superkondensator), die andere über chemische Reaktionen (also als Akku). Der Superkondensator kann schnell geladen und entladen werden, aber er speichert den Strom nicht so lange wie ein Akku. Um das richtige Gleichgewicht zwischen den beiden Technologien zu finden, bedarf es einer sorgfältigen Modellierung.

Natürlich sind Drachen nicht die einzige Methode für AWE. Eine zweite beliebte Möglichkeit sind Drohnen. Das niederländische Unternehmen Ampyx Power hat ein drohnenbasiertes AWE-System entwickelt, dessen Ansatz dem von KITEnergy ähnelt: dem Ab- und Aufspulen eines Seils mit Stromerzeugung am Boden.

Das angeleinte Drohnenflugzeug von Ampyx Power wandelt Wind in größeren Höhenlagen in Strom um.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Ampyx Power.

Bei der Strategie von Ampyx geht es jedoch vor allem um Windparks über dem Meer. Herkömmliche Offshore-Windparks belasten das Fundament der Turbinen mit einem starken Drehmoment. Im Laufe der Jahre lockert das die Fundamente so sehr, dass die Standorte aufgegeben werden müssen.

Laut Michiel Kruijff, Leiter der Produktentwicklung bei Ampyx, übt das AWE-System des Unternehmens nur 20 bis 30 Prozent des Drehmoments auf das Fundament aus, das ein herkömmliches Windrad heute verursacht. Daher könnte eine AWE-Plattform mit Ampyx-Drohne (im Bild) eine Offshore-Turbine  bei einer Umrüstung ersetzen.

„Allein in der Nordsee warten 600 Masten auf Umrüstung“, sagt Kruijff. „Unser geplanter erster Kunde hat 100 solcher Masten.“

Die AWE-Strategie von Ampyx bietet neben der Installation auf vorhandenen Strukturen weitere Kostensenkungsmaßnahmen für Nennleistungen, die mit denen einer heutigen Offshore-Windturbine vergleichbar sind. Erstens sind der Transport und die Installation des Systems einfacher, da es keine überdimensionalen Komponenten wie riesige Rotorblätter gibt, die einen Sondertransport und viel Platz auf der Straße erfordern.

Außerdem benötigen AWE-Plattformen von Ampyx weniger teure Bauteile in Luftfahrtqualität – u. a. keine herkömmlichen Rotorblätter. Wie bei vielen AWE-Technologien gibt es weniger das Hardwareproblem wie bei der bodennahen Windenergie als vielmehr ein Softwareproblem.

„Die Komplexität liegt bei den Systemen und der Software. Am Ende seiner Entwicklung sollte das System einfach sein. Aber die Software wird komplex sein. Das ist die Herausforderung, an der wir gerade arbeiten.“

Wenn Sie also in etwa zehn Jahren auf der Autobahn fahren, sehen Sie vielleicht anstelle von riesigen metallenen Pusteblumen nur eine Gruppe von Drachen oder angeseilten Drohnen, die hoch am Himmel Schleifen und Achten fliegen – und dabei Energie erzeugen. Und wenn Innovatoren wie Cherubini und Kruijff Recht haben, werden Sie sich vielleicht auch fragen, warum die Menschen einst so viel Zeit und Mühe darauf verwendet haben, die Windenergie den gelegentlichen Böen und Stürmen hier unten, nah am Boden, abzuringen.

Veröffentlicht 2019

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